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Am 26. Mai 2025 hat die 8. Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) eine richtungsweisende Reform der Fachanwaltsordnung (FAO) beschlossen. Im Zentrum steht die Verlängerung des Nachweiszeitraums für praktische Fälle von drei auf fünf Jahre. Außerdem wurden die Anforderungen in sechs Fachanwaltsgebieten modernisiert – von Arbeitsrecht bis Bank- und Kapitalmarktrecht – um den Zugang zum Fachanwaltstitel zeitgemäßer und fairer zu gestalten. Die Reform soll den veränderten Bedingungen im Anwaltsberuf Rechnung tragen und insbesondere jungen Anwältinnen und Anwälten mehr Chancengleichheit bieten. Nachfolgend ein Überblick über die wichtigsten Neuerungen, ihre Hintergründe und die Einordnung dieser Reform als Teil eines fortlaufenden Modernisierungsprozesses.
Mehr Zeit für den Fachanwaltstitel: Nachweiszeitraum auf fünf Jahre verlängert
Wer den Titel Fachanwältin oder Fachanwalt erwerben will, muss neben theoretischen Kenntnissen auch praktische Erfahrung durch eine bestimmte Zahl bearbeiteter Fälle nachweisen. Bisher durften diese Fälle höchstens drei Jahre zurückliegen – eine Frist, die sich in den letzten Jahren für viele als Hürde erwiesen hat. Die Satzungsversammlung hat daher § 5 Abs. 1 Satz 1 FAO geändert und den Zeitraum auf fünf Jahre ausgedehnt. Künftig können Antragsteller*innen also Fälle aus den letzten fünf Jahren anrechnen lassen, um die geforderte Fallzahl zu erreichen. Die inhaltlichen Anforderungen und Fallzahlen für jedes Fachgebiet bleiben dabei unverändert; es zählt nun aber weniger die „Falldichte“ pro Jahr.
Diese Verlängerung verschafft angehenden Fachanwältinnen und Fachanwälten mehr Luft und Fairness. Gerade wer in Teilzeit arbeitet, familienbedingt pausiert oder in einer Region mit geringer Fallzahl praktiziert, hatte bislang oft Schwierigkeiten, innerhalb von nur drei Jahren genug Fälle zu sammeln. Die Satzungsversammlung griff diese Problematik auf und stimmte mit deutlicher Mehrheit (63 zu 6 Stimmen) für die Fünf-Jahres-Frist. Nach Prüfung durch das Bundesjustizministerium sollen die Änderungen voraussichtlich Ende 2025 in Kraft treten.
Reform der Anforderungen in sechs Fachanwaltsgebieten
Zeitgleich mit der Fristverlängerung wurden die fachlichen Anforderungen in sechs Fachanwaltschaften reformiert, um sie an aktuelle Entwicklungen anzupassen. Die wichtigsten Änderungen im Überblick:
- Arbeitsrecht: Wegfall der starren Vorgabe für Fälle im Kollektivarbeitsrecht. Statt bisher eine bestimmte Mindestzahl an kollektivarbeitsrechtlichen Fällen nachweisen zu müssen, genügt nun, dass die erforderlichen 100 Fälle aus mindestens vier der in § 10 FAO definierten Teilbereiche stammen (dazu zählen individual- und kollektivarbeitsrechtliche Gebiete). Außerdem müssen mindestens 50 der 100 Fälle Gerichts- oder Schiedsverfahren gewesen sein. Diese Flexibilisierung trägt der Realität Rechnung, dass nicht jeder Anwältin regelmäßig kollektivrechtliche Streitigkeiten führt.
- Familienrecht: Nach wie vor sind 120 Fälle innerhalb von fünf Jahren nachzuweisen, davon mindestens 60 gerichtliche Verfahren. Neu ist jedoch, dass im Ehescheidungsverfahren geltend gemachte Folgesachen jeweils als eigenständige Fälle zählen. Das heißt, wenn z. B. im Verbund mit einer Scheidung zugleich Unterhalt, Zugewinnausgleich oder Sorgerechtsfragen geregelt werden, wird nun jede dieser Folgesachen separat angerechnet. Dadurch können Familienrechtler*innen die Fallzahl leichter erreichen, obwohl komplexe Scheidungen oft mehrere Teilaspekte umfassen.
- Strafrecht: Die Anforderung bleibt bei 60 bearbeiteten strafrechtlichen Fällen, aber die Vorgaben zu Hauptverhandlungen wurden präzisiert. Künftig müssen darunter 40 Hauptverhandlungstage absolviert sein, davon mindestens 30 vor einem Schöffengericht oder einem übergeordneten Gericht. Damit werden genügend Erfahrungen in umfangreicheren Strafsachen sichergestellt, allerdings zählen Verhandlungen vor dem Schöffengericht (Amtsgericht mit Schöffen) nun mit – zuvor lag der Fokus stärker auf Land- und Oberlandesgerichten. Diese Änderung berücksichtigt, dass viele Strafverteidigungen auf Schöffengerichtsebene stattfinden.
- Erbrecht: Die Fallzahlen bleiben konstant (erforderlich sind hier weiterhin zumeist 80 erbrechtliche Fälle, wie bisher). Geändert hat sich aber die Verteilung auf die verschiedenen Themengebiete des Erbrechts. Die Fälle müssen nun mindestens vier der fünf Wissensgebiete des Erbrechts abdecken, wobei in drei dieser Bereiche jeweils mindestens fünf Fälle nachzuweisen sind. Damit entfällt der Zwang, wirklich alle Teilgebiete abzudecken, und es genügt, wenn eine angehender Fachanwalt*anwältin für Erbrecht in vier von fünf Kernbereichen praktische Erfahrung gesammelt hat. Diese Bereiche umfassen etwa die vorweggenommene Erbfolge, Vertrags- und Testamentsgestaltung sowie Vorsorgevollmachten – ein Bereich, den die Reform explizit klarer gefasst hat.
- Bank- und Kapitalmarktrecht: Die erforderliche Fallzahl wurde hier auf 60 Fälle festgelegt (zuvor waren es 80) und die Anforderungen modernisiert. Mindestens 30 dieser 60 Fälle müssen in rechtsförmigen Verfahren geführt worden sein, etwa vor Gericht, in außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren oder Schieds- und Schlichtungsverfahren (z. B. Ombudsstelle). Außerdem müssen die Fälle mindestens drei verschiedene Bereiche des Bank- und Kapitalmarktrechts betreffen, auf jedem dieser Bereiche mit mindestens fünf Fällen. Die in § 14l FAO neu definierten Wissensgebiete reichen von den Grundlagen der Bank-Kunden-Beziehung (AGB, Kontoarten, Bankentgelte) über das Kreditvertrags- und Kreditsicherungsrecht bis hin zu modernen Zahlungssystemen (Überweisung, Lastschrift, digitale Bezahlmethoden, Kreditkarten). Diese Aktualisierung stellt sicher, dass Fachanwält*innen für Bank- und Kapitalmarktrecht ein breites Spektrum abdecken – inklusive neuer Entwicklungen im Finanzsektor.
- Sozialrecht: Die fachlichen Kenntnisbereiche im Sozialrecht wurden neu gefasst, um aktuellen Gesetzesänderungen gerecht zu werden. § 11 FAO listet nun explizit u. a. das Recht der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen und das Existenzsicherungsrecht (Grundsicherung, Sozialhilfe, Wohngeld) als nachzuweisende Kenntnisse auf. Auch das Recht der Familienleistungen und -hilfen sowie das Ausbildungsförderungsrecht wurden deutlicher hervorgehoben. Diese Modernisierung spiegelt die neuen Begriffe und Strukturen des Sozialgesetzbuchs wider, ohne die Fallzahl (weiterhin 60 Fälle) zu verändern. Praktisch bedeutet das, dass in Ausbildungskursen und Prüfungen für den Fachanwalt für Sozialrecht verstärkt auf diese Themen Wert gelegt wird.
Gründe der Reform: Veränderter Berufsalltag und schwindende Fallzahlen
Warum waren diese Änderungen erforderlich? Die Rahmenbedingungen des Anwaltsberufs haben sich seit Einführung der FAO in den 1990er Jahren grundlegend geändert. Teilzeitarbeit und familienbedingte Auszeiten sind heute weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert – für Frauen wie Männer. Gleichzeitig verzeichnen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte einen generellen Rückgang der Fallzahlen, während der Aufwand pro Mandat gestiegen ist. Nach einer Analyse des Soldan Instituts hat sich die Zahl der Gerichtsverfahren seit den 1990er Jahren annähernd halbiert, während sich die Zahl der zugelassenen Anwälte nahezu verdoppelt hat. Mit anderen Worten: Es gibt immer weniger Fälle, die unter immer mehr Jurist*innen aufgeteilt werden müssen. Gerade in ländlichen Regionen fehlen oft genug passende Mandate, um in kurzer Zeit die erforderlichen Fallzahlen zu sammeln.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass die starren drei Jahre zur „faktischen Zugangsschranke“ geworden waren, wie es in der Begründung heißt. Wer nicht in Vollzeit oder in einer großstädtischen Kanzlei mit hohem Mandatsaufkommen arbeitete, hatte vielfach kaum eine Chance, alle Bedingungen in so kurzer Zeit zu erfüllen. Die Fachanwaltsordnung ging ursprünglich implizit von einer Vollzeittätigkeit aus – früher waren 40+ Wochenstunden gerade für Kanzleiinhaber üblich. Heutige Berufsrealität ist jedoch oft anders: Viele jüngere Anwält*innen sind angestellt statt selbstständig, Kanzleineugründungen werden seltener, und flexible Arbeitsmodelle ersetzen das traditionelle 60-Stunden-Partnerleben. Die bisherige Fristenregelung passte schlicht nicht mehr zur „gelebten Realität“.
Hinzu kommt ein demografischer Effekt: In einigen Fachgebieten stagnierte zuletzt der Nachwuchs, teils nahmen die Gesamtzahlen der Fachanwälte sogar ab. Besonders drastisch war der Rückgang im Familienrecht und Sozialrecht – interessanterweise zwei Gebiete, in denen überdurchschnittlich viele Frauen tätig sind. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand: Nach wie vor schultern Frauen den Löwenanteil der Sorgearbeit (Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen), was ihre berufliche Zeit für Zusatzqualifikationen einschränkt. Die Zahlen belegen, dass Rechtsanwältinnen seltener Fachanwälte werden als ihre männlichen Kollegen, obwohl Fachanwältinnen gerade in kleineren Kanzleien eigentlich genauso gefragt wären. Der Deutsche Anwaltverein hatte im Vorfeld explizit auf diese strukturelle Benachteiligung hingewiesen und betont, dass die ungleiche Verteilung der Familienarbeit ein wesentlicher Grund für die geringere Fachanwältinnen-Quote ist. Kurzum: Die Reform war nötig, um auf einen nachhaltigen Wandel im Berufsbild zu reagieren und drohenden Nachwuchsmangel in einigen Spezialisierungen abzuwenden.
Ziele der Reform: Mehr Fairness, Nachwuchsförderung und Qualitätssicherung
Mit der Verlängerung der Fall-Sammelfrist und den punktuellen Anpassungen verfolgt die Satzungsversammlung klare Ziele. Zunächst soll die Reform Fairness und Chancengleichheit herstellen – insbesondere für Anwältinnen und Kollegen, die nicht in den klassischen Vollzeitmustern arbeiten. Teilzeitjurist*innen und solche mit Familienverantwortung erhalten nun eine realistische Chance, den Fachanwaltstitel zu erwerben, ohne ihre Lebensmodelle opfern zu müssen. Der DAV begrüßte die Änderung ausdrücklich als Schritt, um der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit etwas entgegenzusetzen und mehr Anwältinnen den Fachanwalt zu ermöglichen.
Darüber hinaus soll die Reform den juristischen Nachwuchs motivieren und fördern. Für viele junge Anwältinnen und Anwälte ist der Fachanwaltstitel ein wichtiges Karriereziel und ein Qualitätsmerkmal gegenüber Mandanten. Wenn der Weg dorthin nun weniger von starren zeitlichen Hürden geprägt ist, dürften wieder mehr Jungjurist*innen diesen Weg einschlagen. In der Tat galt die Fachanwaltschaft lange als Erfolgsmodell – sie ist ein etabliertes „Qualitätssiegel“ im Rechtsdienstleistungsmarkt. Private Mandanten wie Unternehmen achten bei der Anwaltssuche gezielt auf Fachanwaltstitel. Doch zuletzt flachte der Zuwachs deutlich ab Indem die Zugangsvoraussetzungen nun realitätsnäher gefasst werden, soll der Trend wieder positiver ausfallen und die Zahl der Fachanwältinnen und Fachanwälte weiter wachsen (oder zumindest nicht weiter schrumpfen).
Trotz aller Erleichterungen wurde die Qualitätssicherung ausdrücklich im Blick behalten. Die Reform verändert die erforderliche Menge der Fälle nicht – ein Fachanwalt muss nach wie vor z. B. 100 arbeitsrechtliche oder 120 familienrechtliche Fälle vorweisen, sodass die Praxisbreite und Erfahrung gewährleistet bleibt. Lediglich der Zeitraum ist gestreckt, was im Idealfall sogar der Qualität zugutekommt: Fachwissen wird nun über längere Zeit „am Ball gehalten“ und kontinuierlicher vertieft, anstatt Fälle in kurzer Zeit zu erzwingen. In der Diskussion wurde betont, dass eine geringere Falldichte keinen Qualitätsverlust bedeutet – im Gegenteil, sie könnte zu einer Qualitätssteigerung führen. Auch die Härtefallklausel (§ 5 Abs. 3 FAO), die bislang Verlängerungen im Einzelfall erlaubte, bleibt bestehen. Allerdings wird sie durch die allgemeine Fristverlängerung in vielen Fällen entbehrlich, was wiederum die Rechtsanwaltskammern entlastet (weniger Einzelprüfungen). Unterm Strich soll die Reform also gleiche Wettbewerbschancen schaffen, ohne das hohe Niveau der Fachanwaltsqualifikation zu gefährden.
Ausblick: Ein Etappenziel im Modernisierungsprozess der FAO
Die beschlossenen Änderungen gelten als Etappenziel einer fortlaufenden Modernisierung der Fachanwaltsordnung – keineswegs als Endpunkt. Sowohl Berufsverbände als auch die BRAK erkennen an, dass weitere Anpassungen folgen müssen, um die Fachanwaltschaft zukunftsfit zu halten. Prof. Dr. Matthias Kilian vom Soldan Institut begrüßt die aktuellen Reformschritte, betont aber: „Die jetzt beschlossenen Änderungen können nur ein erster Aufschlag sein, um die FAO zukunftsfit zu machen.“soldan.de Bereits in der Vergangenheit hatte das Soldan Institut vor „Wolken am blauen Himmel der Fachanwaltschaften“ gewarnt und empirischen Reformbedarf aufgezeigt. Aktuell läuft sogar eine groß angelegte Befragung der Anwaltschaft (sowohl Fachanwälte als auch Nicht-Fachanwälte), um weitere Verbesserungsmöglichkeiten in der FAO zu identifizieren. Die Ergebnisse sollen der Satzungsversammlung als Grundlage für kommende Reformen dienen.
Auch die Satzungsversammlung selbst versteht die Reform als Teil einer kontinuierlichen Entwicklung. In vorherigen Sitzungen wurden z. B. bereits Überlegungen zur Fortbildungspflicht oder zur Einführung neuer Fachanwaltsbezeichnungen diskutiert. Die nächste Sitzung des „Anwaltsparlaments“ ist für Dezember 2025 angekündigt. Es ist davon auszugehen, dass weitere Modernisierungen der FAO folgen werden, um den Fachanwaltsberuf an die Dynamik von Recht und Anwaltsmarkt anzupassen.
Fazit: Mit der FAO-Reform vom 26. Mai 2025 reagiert die Anwaltschaft auf veränderte Realitäten: Mehr Flexibilität bei der Fallpraxis, aktualisierte Anforderungen in wichtigen Rechtsgebieten und ein klares Bekenntnis zu Fairness und Qualität. Fachanwältinnen und Fachanwälte – ob in Großkanzlei oder Teilzeit, ob in Hamburg oder auf dem Land – sollen auch künftig ihr Spezialwissen nachweisen können, ohne unüberwindbare Hürden. Die Reform schafft dafür die Basis und markiert einen wichtigen Schritt im fortwährenden Prozess, die Fachanwaltsordnung im Sinne der Anwaltschaft weiterzuentwickeln.
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